Um sich eine fundierte Meinung zu bilden, müssen Sie kein Bahn- oder Wirtschaftsexperte sein. Es genügt gesunder Menschenverstand.
Wenn es um Sachlichkeit und Transparenz geht, tragen viele Äußerungen von Gegnern und Befürwortern leider nicht immer dazu bei. Ich möchte Ihnen deshalb die absoluten Minimalfakten zur Verfügung stellen. Da ich Gegner von Stuttgart 21 bin, aber für Sachlichkeit und Transparenz sorgen möchte, habe ich die hier in Teil 1 genannten Informationen fast ausschließlich von Projektbefürworten und offiziellen Stellen übernommen.
Teil1: Die Fakten
1. Was genau ist Stuttgart 21?
Mit Stuttgart 21 soll der Eisenbahnknoten Stuttgart komplett neu geordnet werden:
- Der 17-gleisige Kopfbahnhof soll durch einen 8-gleisigen unterirdischen Durchgangsbahnhof ersetzt werden. Der unterirdische Zulauf wird zum Teil die Mineralwasserquellen tangieren. Wie der Tiefbahnhof aussehen wird, können Sie hier sehen:
- Bild 1 / Quelle: Abendblatt.de
- Bild 2 / Quelle Tagblatt.de
- Bild 3 / Quelle: Morgenpost.de
- Bild 4 / Quelle: Stuttgarter-Zeitung.de
- Die Zulaufstrecken sollen aufgrund der Kessellage Stuttgarts in Tunnel verlegt werden. Es sind Tunnelröhren von insgesamt über 60 Kilometer Länge geplant.
- Die frei werdenden Gleisflächen sollen der Stadtentwicklung zur Verfügung gestellt werden.
- Es sollen drei neue Bahnhöfe entstehen: der Filderbahnhof am Flughafen, die S-Bahn-Station Mittnachtstraße und der Abstellbahnhof Untertürkheim.
- Die Neubaustrecke Stuttgart-Wendlingen gehört ebenfalls zum Projekt Stuttgart 21.
2. Wie sieht der Zeitplan aus?
Die Deutsche Bahn geht davon aus, dass der Probebetrieb des Tiefbahnhofs 2019 beginnen kann. Hier können Sie sich den Zeitplan der Deutschen Bahn ansehen. Stuttgart wird ab heute noch für mindestens neun Jahre zu einer Großbaustelle mit entsprechenden Behinderungen werden, wobei Verzögerungen bei Großprojekten natürlich nie ausgeschlossen werden können.
3. Wie teuer wird Stuttgart 21?
Die Bahn hat die Gesamtkosten für das Projekt seit Beginn der Planungen mehrfach nach oben korrigiert:
- 1995 – 2,45 Milliarden Euro: In der Machbarkeitsstudie von 1995 wurden die Kosten zunächst auf 4,807 Milliarden D-Mark prognostiziert, also rund 2,45 Milliarden Euro.
- 1998 – 2,6 Milliarden Euro: Auf Basis des Preis- und Planungsstandes von 1998 wurden dann Gesamtkosten von 2,6 Milliarden Euro ermittelt.
- 2009 – 3 Milliarden Euro: Als Grundlage des Finanzierungsvertrags vom März 2009 schätzte die Bahn die Gesamtkosten dann auf 2,8104 Milliarden Euro, beziehungsweise fortgeschrieben und nominalisiert auf 3,076 Milliarden Euro.
- 2010 – 7 Milliarden Euro: Mittlerweile belaufen sich die Gesamtkosten nach Angaben der Bahn auf 7 Milliarden Euro: 4,1 Milliarden Euro für den Tiefbahnhof und 2,9 Milliarden Euro für die Neubaustrecke nach Ulm.
Die Bahn hat als absolute Obergrenze für den Tiefbahnhof 4,5 Milliarden Euro festgelegt.
Der Bundesrechnungshof ging bereits 2008, basierend auf Maßstäben des Bundesverkehrsministeriums, mit Mehrkosten von 1,2 Milliarden Euro und Gesamtkosten von 5,3 Milliarden Euro aus.
Die renommierte Verkehrsberatung Vieregg-Rössler prognostizierte Mitte 2008 wahrscheinliche Gesamtkosten für in Höhe von 6,9 bis 8,7 Milliarden Euro.
Im Jahr 2010 urteilte das Bundesumweltamt, dass Gesamtkosten von 9 bis 11 Milliarden Euro realistischer seien.
4. Wie wird Stuttgart 21 finanziert?
Die derzeit avisierten 4,1 Milliarden Euro für den Tiefbahnhof teilen sich wie folgt auf:
- Deutsche Bahn AG: 1.469 Millionen Euro
- Bund: 1.229,4 Millionen Euro
- Land: 823,8 Millionen Euro
- Landeshauptstadt Stuttgart: 238,5 Millionen Euro
- Flughafen Stuttgart: 227,2 Millionen Euro
- Verband Region Stuttgart: 100 Millionen Euro
Die Finanzierung der 2,9 Milliarden teuren Neubaustrecke Wendlingen-Ulm obliegt zwar dem Bund, doch das Land Baden-Württemberg beteiligt sich daran:
- Baden-Württemberg: 950 Millionen Euro
- Bahn: geringer Planungskostenanteil
- Bund: Anschlussfinanzierung in Höhe von 1,940 Millionen Euro
- Kostensteigerungen werden ausschließlich vom Bund getragen
Das Land Baden-Württemberg, die Stadt Stuttgart, Flughafen und Verband Region Stuttgart beteiligen sich mit insgesamt 2,34 Milliarden Euro am Gesamtprojekt Stuttgart 21. Dies entspricht etwas mehr als einem Drittel der Gesamtkosten.
5. Wie sieht die finanzielle Situation von Land Baden-Württemberg und Stadt Stuttgart aus?
Nach einem Kassensturz der neuen Landesregierung hat das Land Baden-Württemberg Schulden in Höhe von 70 Milliarden Euro. Hinzu kommen 68 Milliarden Euro ungedeckte Pensionsverpflichtungen und drei Milliarden Euro Sanierungsstau bei Landesgebäuden und -straßen, insgesamt also 141 Milliarden Euro. Offenbar gibt es trotz Steuermehreinnahmen in der Finanzplanung 2012 bis 2014 noch Deckungslücken von neun Milliarden Euro. Für die Qualitätsoffensive „Bildung an den Schulen“ fehlen von 2013 an 225 Millionen Euro jährlich. Die Verschuldung des Landes ist in den vergangenen drei Jahren mit rund 1.500 Euro je Einwohner sprunghaft angestiegen.
Die Stadt Stuttgart hat derzeit Schulden in Höhe von rund 151 Millionen Euro (beteiligen will sie sich an Stuttgart 21 mit 238,5 Millionen Euro).
Im Januar 2010 – also noch lange vor dem Regierungswechsel zu Grün-Rot – betonte der Vorsitzende des Finanzausschusses Rust bei der Verabschiedung des Landeshaushalts: „Es wird nicht ausreichen, auf eine zukünftige Verbesserung der Einnahmesituation zu hoffen, vielmehr ist es notwendig, auch auf der Ausgabenseite strukturelle Einsparungen vorzunehmen. Nur so kann der Landeshaushalt langfristig konsolidiert werden.“ Das Gesamtvolumen des Haushalts beträgt rund 35 Milliarden Euro.
6. Was wurde in der Schlichtung vereinbart?
Mit dem Schlichterspruch von Heiner Geisler, den Sie hier im Originalwortlaut nachlesen können, halten beide Seiten folgende Punkte für notwendig:
- Die frei werdenden Grundstücke werden der Grundstücksspekulation entzogen.
- Die Bäume im Schlossgarten bleiben erhalten.
- Die Gäubahn bleibt erhalten.
- Die Verkehrssicherheit des Tiefbahnhofs wird verbessert, Barrierefreiheit für Behinderte, Familien mit Kindern, Ältere und Kranke wird hergestellt.
- Der Tiefbahnhof wird um ein 9. und 10. Gleis erweitert.
- Brandschutz und Entrauchung des Tiefbahnhofs und der Tunnels werden verbessert.
- Für den Fall einer Sperrung des S-Bahn- oder Fildertunnels muss ein Notfallkonzept vorgelegt werden.
- Zweigleisige westliche Anbindung des Flughafen Fernbahnhofs an die Neubaustrecke
- Zweigleisige und kreuzungsfrei angebundene Wendlinger Kurve
- Anbindung der bestehenden Ferngleise von Zuffenhausen an den neuen Tunnel von Bad Canstatt zum Hauptbahnhof.
- Ausrüstung aller Strecken von S 21 bis Wendlingen zusätzlich mit konventioneller Leit- und Sicherungstechnik.
- Die Bahn führt einen Stresstest anhand einer Simulation durch. Sie muss den Nachweis führen, dass ein Fahrplan mit 30 Prozent Leistungszuwachs in der Spitzenstunde mit guter Betriebsqualität möglich ist. Dabei müssen anerkannte Standards des Bahnverkehrs für Zugfolgen, Haltezeiten und Fahrzeiten zur Anwendung kommen.
7. Wie hat die Bahn den Schlichterspruch umgesetzt? (Stand: 3.7.2011)
Die Bahn hat am 2. Juli die Präsentationsfolien des Stresstests an die S21-Gegner ausgehändigt. Nicht übergeben wurden Prämissen, Aufgabenstellung und Originaldaten des Stresstests. Experten können diese Foliensammlung kaum prüfen. Auch die Unterlagen und Regelwerke, die in Teil 1 auf Seite 2 genannt werden, liegen nicht vor. Zum Vergleich: Ein Wirtschaftsprüfer kann keine Einschätzung vornehmen, ohne die Bilanz gesehen zu haben.
Was aus den Folien auf den ersten Blick ersichtlich ist:
- Die Simulationen scheinen im Wesentlichen auf der Annahme eines störungsfreien, reibungslosen Betriebsablaufs zu basieren..
- Es soll kein 9. Und 10. Gleis geben. Stattdessen wurden die vorgesehenen 8 Gleise in jeweils 1a und 1b, 2a und 2b usw. unterteilt, so dass nun von 16 Gleisen gesprochen wird. In der Realität bedeutet dies eine Doppelbelegung: Wenn zum Beispiel der vorne haltende Zug aus irgendeinem Grund nicht ausfahren kann, muss der hinter ihm befindlich Zug eine Zwangspause machen.
- Es ist nicht klar, ob die Gäubahn erhalten bleibt.
Die Bahn hat noch keine Konzepte zu folgenden, im Schlichterspruch vereinbarten Punkten geliefert:
- Notfallkonzept
- Verbesserte Verkehrssicherheit / Barrierefreiheit
- Verbesserter Brandschutz und Entrauchung
Teil 2: Mal was zum Nachdenken
1. Die tatsächlichen Kosten für den Steuerzahler
Wie teuer wird Stuttgart 21 wirklich? Genau werden wir es erst wissen, wenn Stuttgart 21 gebaut ist. Doch bereits heute können Sie nachrechnen und nachlesen: Stuttgart 21 ist eines der teuersten Bahnprojekte aller Zeiten in Deutschland.
Die Bahn selbst hat 121 Risikofelder ermittelt, die in fast allen Fällen zu Kostensteigerungen führen können, jedoch nur eine einzige Chance für Kostensenkungen. Fazit: Billiger wird Stuttgart 21 nicht werden. Teurer wahrscheinlich schon. Stuttgart 21 hat beste Chancen, zu einem Milliardengrab zu werden, unter dem Stadt und Land für eine sehr lange Zeit leiden würden.
Die in Teil 1 genannten Kosten basieren wie eingangs erwähnt auf den Zahlen der Deutschen Bahn. Tatsächlich verhält es sich mit der Kostenverteilung für den Tiefbahnhof jedoch ein wenig anders. In diesem Video wird sehr schön Schritt für Schritt erklärt, wer Stuttgart 21 tatsächlich zahlt. Sie werden staunen!
Aber es kommt noch besser: Aus Unterlagen der Deutsche-Bahn-Töchter DB Projektbau und DB Netz geht jetzt hervor, dass bereits vor zwei Jahren bahnintern die Kosten für den Bahnhofsumbau mit weit über 4,5 Milliarden Euro berechnet wurden. Sollte sich herausstellen, dass die Bahn hier geschummelt hat, würde dies das sofortige Projektaus bedeuten, weil die Bahn selbst als absolute Obergrenze eben 4,5 Milliarden Euro genannt hat.
Im Grunde ist es fast nebensächlich, ob Stuttgart 21 nun 4,1 Milliarden, 4,5 oder 11 Milliarden kostet – schon 4,1 Milliarden Euro wären viel zu viel, denn die Bürger würden unvorstellbar viel Geld für etwas Schlechtes ausgeben: für einen Bahnhof, der, wenn er endlich fertig ist, genauso viel kann wie der alte Bahnhof und damit aber dann bereits an seiner Leistungsgrenze ist. Stattdessen könnte man für vermutlich ein Drittel des finanziellen Aufwands den jetzigen Kopfbahnhof modernisieren und fit für die Zukunft machen. Selbst wenn man die Ausstiegskosten (je nach „Lager“ bewegen sich diese zwischen 400 Millionen und 1,5 Milliarden Euro) berücksichtigt, stünden die Baden-Württemberger finanziell besser da.
Übrigens: Selbst S21-Befürworter geben mir gegenüber im 4-Augen-Gespräch zu, dass Stuttgart 21 – bahnhofstechnisch gesehen – die reinste Geldverschwendung ist, weil Stuttgart bereits einen gut funktionierenden Bahnhof hat, der modernisiert werden könnte.
2. Wer kann mehr: Durchgangsbahnhof oder Kopfbahnhof?
Die für den Tiefbahnhof 21 geforderten 49 Züge entsprechen durchschnittlich 6,1 Zügen pro Gleis. Diesen Wert konnte bisher noch kein einziger großer Bahnhof der Bahn erreichen. Es wäre ein echtes Wunder, wenn Stuttgart 21 dies plötzlich schaffen würde. Experten bezweifeln dies deshalb.
Der geplante Durchgangsbahnhof würde sich nur für Reisende lohnen, die möglichst schnell durch Stuttgart durchfahren wollen. Die Zeitersparnis würde dann ganze 2(!) Minuten betragen. Die überwiegende Mehrheit aber – 80 bis 90 Prozent – steigt in Stuttgart ein, aus oder um. Diese Mehrheit braucht also keinen neuen Durchgangsbahnhof, sondern eine direkte Anbindung an den Stadt-, Regional- oder Fernverkehr. Am besten ebenerdig, und am besten in gleichbleibendem, leicht zu merkendem Zeittakt.
Wenn man Fern- und Nahverkehr in einem solchen gemeinsamen Zeittakt miteinander verbindet, spricht man von einem “Integralen Taktfahrplan”. Der funktioniert aber nur, wenn die Züge aus allen Richtungen gleichzeitig eintreffen. Dazu benötigt man jedoch ausreichend Platz im Bahnhof. Der Stuttgarter Kopfbahnhof mit seinen 16 Gleisen bietet diesen Platz. In einem Durchgangsbahnhof mit nur 8 Gleisen und 4 Zufahrtsgleisen muss hingegen jeder Zug sofort wieder ausfahren, da er sonst das Gleis blockiert. Es kann kein Zug auf den anderen warten. Der geplante Durchgangsbahnhof wird also zum Nadelöhr werden: Die Umsteigesituation wird nicht besser, sondern schlechter.
3. Wie gut erfüllt die Bahn ihren Auftrag?
Sind Sie schon einmal in einem ICE gefahren, der keine einzige funktionierende Toilette hat? Ich schon. Und mit mir Tausende von anderen Bahnfahrern. Wie kann es sein, dass ein Unternehmen ein milliardenschweres Projekt wie Stuttgart 21 durchziehen will, wenn es nicht einmal in der Lage ist, seine Züge mit funktionierenden Toiletten und Klimaanlagen auszustatten? Seine Bahnhöfe in einem ordentlichen Zustand zu halten? Genügend Züge bereitzuhalten? Einigermaßen Pünktlichkeit zu gewährleisten? Sollte die Bahn vielleicht nicht zuerst ihre Hausaufgaben machen und eine gute Betriebsqualität in der Gegenwart herstellen, bevor sie ein solches Projekt in Angriff nimmt? Wo ist denn da die Verhältnismäßigkeit?
Der Bundesrechnungshof hat übrigens erst kürzlich schwere Mängel im Qualitätsmanagement der Bahn aufgedeckt: Sie lässt nicht nur ältere Brücken verfallen, damit der Bund neue finanziert, sondern schönt auch die Zahlen, mit denen sie jährlich 2,5 Milliarden Euro Staatszuschuss rechtfertigen soll. Ein beispielhaftes Zitat: Bei der stichprobenartigen Überprüfung von 50 Bahnhöfen stellte der Rechnungshof fest, dass „die DB AG Zustandsnoten für Bahnanlagen vergeben hat, die vor Ort nicht vorzufinden waren“. Den kompletten Artikel können Sie hier nachlesen.
4. „Das ist Fortschrittsverweigerung. Wir wollen ein modernes Stuttgart!“
Diese Behauptung ist nicht nur harter Tobak, sondern schlichtweg falsch. Auch die Gegner wollen ein modernes Stuttgart, einen modernen Bahnhof, eine moderne Anbindung usw.
Es geht überhaupt nicht darum, eine Modernisierung zu verweigern. Im Gegenteil: Es geht darum, eine Modernisierung zu erzielen, die sowohl von den Kosten, von der Ökologie und vom Zeitfaktor her sinnvoll ist. Selbstverständlich soll der bestehende Kopfbahnhof noch leistungsfähiger und moderner gemacht werden, und er hat diese Kapazität. Selbstverständlich gibt es Verbesserungsbedarf bei Anbindungen und Strecken. Und selbstverständlich muss die Stadtentwicklung vorangetrieben werden. Mit K21 hat das Aktionsbündnis ein durchdachtes und von Experten entwickeltes Konzept vorgelegt.
Wenn Sie einmal sehen wollen, wer die sogenannten „Verweigerer“ des Fortschritts sind:
5. „Warum haben die nicht von Anfang an demonstriert?“
Diese Frage höre ich immer wieder, zuletzt aus meinem ganz privaten Umfeld. Auf meine Gegenfrage, ob dieser Person in den neunziger Jahren bewusst war, dass Stuttgart 21 gebaut werden sollte, erhielt ich die Antwort „Nein.“ Wie kann man dann von anderen verlangen, etwas zu wissen, was man selbst nicht wusste?
Fakt ist übrigens, dass es zu Stuttgart 21 schon IMMER Proteste gab – von Anfang an. Nur war die Protestbewegung damals noch nicht so groß.
6. „Das sind noch nur Berufsdemonstranten und Krawallmacher – Gesocks.“
Seit den Gewalttätigkeiten auf der Montagsdemonstration am 20. Juni bekomme ich – ebenfalls aus meinem privaten Umfeld – verstärkt solche Äußerungen zu hören. Einmal abgesehen davon, dass man damit alle Demonstranten über einen Kamm schert, ist auch diese Aussage schlichtweg falsch:
Eine explorative Studie des Göttinger Instituts für Demokratieforschung zeigt: Dieser Protest hat völlig neue Dimensionen erreicht. Ich zitiere wörtlich aus der Studie:
- Es handelt sich um einen Protest von überdurchschnittlich Gebildeten: Über 70% der Befragten haben mindestens Abitur, über 40% sogar einen Hochschulabschluss.
- Der Altersschnitt ist relativ hoch (75% der Protestierenden sind über 35 Jahre), auch Personen über 55 Jahren sind mit fast 20% stark vertreten.
- Obwohl eine Online-Umfrage eigentlich zu einer Überrepräsentierung von Jüngeren führen müsste, sind noch nicht einmal 10% der Teilnehmer jünger als 25 Jahre.
- Lediglich 20% der Befragten haben auch zuvor schon häufig oder sehr häufig an Demonstrationen teilgenommen. Die überwiegende Mehrheit – 80% – hat entweder zuvor noch nie an einer Demonstration teilgenommen oder nur selten bzw. gelegentlich.
Damit dürfte der Vorwurf „Berufsdemonstranten“ und „Gesocks“ wohl widerlegt sein…
Zum Thema „Krawallmacher“ sind verschiedene Dinge zu sagen: Inzwischen müsste jeder mitbekommen haben, dass sich alle Gruppierungen der Stuttgart21-Gegner noch einmal eindeutig gegen jede Gewalt ausgesprochen haben. Gewalt darf in keiner Form toleriert werden. Die Ausschreitungen am 20. Juni gingen nach letzten Erkenntnissen auch nur von einigen wenigen aus. Die große Mehrheit der Demonstranten hat sich nicht daran beteiligt bzw. hat sogar versucht, diese Personen davon abzuhalten. Dazu kommt, dass man eine unorganisierte Menge von Demonstranten, die sich oft nicht einmal untereinander kennen, nicht mit einer gut ausgebildeten, straff und hierarchisch organisierten Gruppe wie der Polizei vergleichen darf. Eine Protestbewegung ist wie eine öffentliche Veranstaltung ohne Eintrittskarte: Jeder kann kommen, jeder kann mitmachen. Und niemand hat einen Überblick darüber, was einige Meter weiter weg von ihm gerade passiert. Ganz zu schweigen davon, dass man praktisch kaum Einfluss oder gar Kontrolle über die Abläufe und die Taten anderer hat.
Es gibt jedoch noch eine andere „Kraft“, die Einfluss auf das Geschehen bei Demonstrationen nehmen kann. Vor einigen Tagen kontaktierte mich ein pensionierter Polizeibeamter aus Baden-Württemberg. Er hatte mein Treiben zu Stuttgart 21 auf Twitter beobachtet. Nachdem wir uns eine Weile über die Protestbewegung und den „Randale-Montag“ unterhalten hatten, bestätigte er mir ein offenes Geheimnis: Bei Demonstrationen wurden schon immer sogenannte Agents Provocateurs eingesetzt – speziell ausgebildete Personen, natürlich in Zivil und als normale Person getarnt, die in der Menge zu Unfrieden und Strafhandlungen anstiften. Selbstverständlich sind Agents Provocateurs verboten – eingesetzt werden sie trotzdem.
Fazit: Es mag Menschen geben, die die Protestbewegung gegen Stuttgart 21 nutzen, um zu randalieren oder im Schlossgarten eine vorübergehende „Heimat“ zu finden. Deshalb die ganze Protestbewegung als „Gesocks“ zu bezeichnen, ist – gelinde ausgedrückt – unfair.
„Die Menschheit ist die Krone der Schöpfung.“
Und die Erde ist eine Scheibe.
Das, was sich Gegner und Befürworter seit einigen Monaten gegenseitig antun, ist nicht besonders rühmlich. Ganz gleich, ob es auf der Straße oder im Internet ist. Inzwischen nehme ich kaum noch echte Argumente wahr. Sondern jede Menge Polemik und Propaganda. Das ist erstens unerträglich. Und zweitens der Sache überhaupt nicht dienlich.
Die Folge: Weil Befürworter und Gegner das Niveau ihrer Auseinandersetzung stetig und erfolgreich reduzieren, verliert der Rest der Bevölkerung nicht nur das Interesse, sondern auch die Geduld und den Glauben. Kürzlich fragte ich Menschen, die mir sehr nahestehen, zu ihrer Meinung zu Stuttgart 21. Die Antwort war ganz typisch: „Man weiß bald nicht mehr, ob man dafür oder dagegen sein soll. Zurzeit glauben wir niemandem, weil Befürworter und Gegner der Bahn unehrlich sind. Das ganze Ding ufert aus und kann lästig werden.“
Dafür habe ich Verständnis. Doch es sind Ihre Steuergelder, um die es hier geht. Deshalb: Bilden Sie sich eine fundierte Meinung!
Über Kommentare freue ich mich!
Übrigens: Bei der Financial Times Deutschland können Sie über Stuttgart 21 abstimmen!