Es war einmal eine Partei, die man ernstnehmen konnte – mit Politikern wie Genscher oder Hamm-Brücher, aber das ist schon lange her. Der Niedergang der FDP muss schon in den neunziger Jahren begonnen haben, denn damals war ich bei einer Ärztin in Bonn in Behandlung, die mich während eines Arztbesuchs einmal fragte: „Wollen Sie nicht zur FDP kommen? Wir können noch Leute gebrauchen!“ Ich habe die Behandlung umgehend abgebrochen. Eigentlich hätte ich sie bei ihrer ärztlichen Standesorganisation anzeigen sollen…
Wenn morgen Bundestagswahlen wären, wäre die FDP nicht mehr im Parlament. Woran liegt das? Nun, das hat natürlich viele Gründe. Einen davon durfte ich gestern live auf Twitter miterleben:
Es fing mit diesem Tweet an. Patrick Kurth (Generalsekretär FDP Thüringen, Bundestagsabgeordneter) twitterte am Dienstagmorgen um 7.38 Uhr ironisch-süffisant und frisch von der Leber weg:
https://twitter.com/#!/Patrick_Kurth/status/93192846609354752
„Von wessen Geld leben „Aktivisten“ u. „Blockierer“ eigentl., wenn sie zu dieser Zeit gg. #S21 demonstrieren? Nach Spätschicht kurz zur Demo?“
Was erwartete Herr Kurth eigentlich auf diese Provokation? Selbstverständlich entwickelte sich ein sogenannter „Shitstorm“ – eine Welle der Entrüstung auf der Twitter-Timeline zu Stuttgart 21. Neben zahlreichen bissigen Bemerkungen gab es jedoch auch Erklärungen: Manche Demonstranten setzen sich tatsächlich nach der Spätschicht in den Zug nach Stuttgart, andere opfern Urlaub oder Überstunden, und viele andere müssen eben erst um 9 Uhr zur Arbeit (wie die meisten Menschen auch) und stehen sehr früh auf, um vor der Arbeit noch an der Blockade am Grundwassermanagement teilzunehmen. Vor diesen Menschen habe ich größten Respekt. Herr Kurth offenbar nicht.
Nebenbei bemerkt: Hätte Herr Kurth diese Frage nicht süffisant gemeint, hätte er sie anders formuliert. Zum Beispiel so: „Ganz ernsthafte Frage: Wie schaffen es die Demonstranten eigentlich zeitlich, jeden Morgen am #gwm zu demonstrieren?“
Statt sich für diese Beleidigung zu entschuldigen, twitterte Herr Kurth munter weiter:
https://twitter.com/#!/Patrick_Kurth/status/93239633730748417
„Leider wird sicher auch meine Einkommenssteuer für Berufsdemonstranten verbraten.“
Lieber Herr Kurth, als Mitglied des Bundestages – nein, als Mensch! – sollten Sie sich derart unqualifizierte Äußerungen sparen. Und sich stattdessen lieber informieren. Denn diese Menschen, die Sie hier so geringschätzig erwähnen, sind keine Berufsdemonstranten, sondern vor allem gebildete ältere Menschen. Davon konnte ich mich kürzlich in Stuttgart selbst überzeugen. Und Sie können es auch: http://www.demokratie-goettingen.de/studien/neue-dimensionen-des-protest/
Etwas später stellte Herr Kurth seine Internetfähigkeiten unter Beweis:
https://twitter.com/#!/Patrick_Kurth/status/93243236553994240
„Da würde mich aber die Mitgliedsliste interessieren! Wer macht da mit, bei den „Unternehmern gegen #S21“?“
Lieber Herr Kurth, geben Sie bei Google einfach „Unternehmer gegen Stuttgart 21“ ein – der Link erscheint auf Seite 1 an erster Stelle.
Da Herr Kurth weiter gegen die Stuttgart 21-Gegner polemisierte, nahmen immer mehr Twitterer an dieser „Unterhaltung“ teil. Dies führte dann im Lauf des Vormittags zu folgendem Tweet von Herrn Kurth:
https://twitter.com/#!/Patrick_Kurth/status/93248302950260737
„Beim kleinsten Zweifel an #S21-Gegnern gibts einen Hammer, der der Toleranz- und Diskussionskultur auf Kreuzberg-Niveau entspricht.“
Sehr geehrter Herrr Kurth, zugegeben – die Diskussion wurde heftig, aber was erwarten Sie sich eigentlich von solch unsäglichen Tweets? Dass wir sie unkommentiert hinnehmen? Vor Ehrfurcht stumm erstarren, weil ein MdB uns angetwittert hat? Denken Sie einfach einmal darüber nach:
Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.